Von der Quellwelt der Musik zu den
Metamorphosensymphonien
Bereits in seiner Jugend erlebte Martin Scherber, dass die Musik ganz im Innersten des Menschen geboren wird, keinerlei Vorbild in einer Außenwelt hat - in diesen Welten aber durch die akustischen Phänomene eine 'Abbildung' erfährt. 'Abtönung' müßte man besser, analog zum vorher genannten Wort, sagen, wenn es dieses Wort mit einem entsprechenden begrifflichen Inhalt schon in der deutschen Sprache gäbe.
Diese 'Abtönung' kann, wenn sie auf realen Erlebnissen beruht, in der Umkehrung wieder zu tieferen Fragen nach dem Ursprung der Musik u. a. führen.
Scherber wollte die Quelle, aus welcher die musikalische Kunst mit ihren Gesetzmäßigkeiten fließt, ursprünglich finden. Das erkannte er früh als seine Aufgabe, als das zu lösende 'Motiv' seines Lebens, den Sinn seiner Biographie. Dazu waren eine Vielzahl verschiedenster Grundlagen zu erarbeiten
Störend waren dabei alle Eindrücke der Außenwelt und deren Reminiszenzen, sowie alle unbewältigten Egoismen im Inneren. Aus der Verwandlung beider Zwangsimpulsgeber durch spirituelle Erkenntnisschulung - entsprechend und im Einklang mit den Hinweisen Rudolf Steiners (1861-1925) - ergab sich für ihn ein besonderer Weg der künstlerischen Lebenspraxis. Mit sich verstärkenden Bewußtseinskräften gelang es ihm im Laufe seines Lebens, langsam, aber mit geistesgegenwärtiger Offenheit, an die verborgenen Ursprungsquellen der Musik heranzukommen. Wissenschaftliche Bewußtheit, freies künstlerisches Schaffen und religiöse Tiefenkräfte wurden auf diese Weise aufgerufen, ausgebildet und wirksam - u. a. in den Schöpfungen der Metamorphosensinfonien - miteinander verbunden.
Damit versetzte sich Scherber in einen deutlichen Gegensatz zu den musikalischen Avantgardisten (Zwölftönern, Serialisten, Aleatoriker etc.) und zu den komponierenden Traditionalisten seiner Zeit, nicht aber zu den Schöpfern des musikalischen Zentralstromes - Bach, Beethoven, Bruckner, um nur einige zu nennen - mit seinen Errungenschaften und verborgenen Zielen.
Alle Musik mit ihren Gesetzmäßigkeiten, so Scherber, sei ja die mehr oder weniger bewußte Errungenschaft von Entdeckern einer verborgenen, reichen, unbestimmten, jedoch gerade deshalb erst auszuformenden zukunftsträchtigen menschlich-musikalischen Innenwelt – genauso wie physikalische Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich-technische Arbeitsergebnisse von Entdeckern einer differenzierten und stetig umformbaren Außenwelt wären. Wer die während der langen musikalischen Entwicklung gewonnenen künstlerischen Gesetzmäßigkeiten nicht respektierte und ignorierte, wäre wie ein Techniker, welcher die gefundenen Naturgesetze nicht achtete und dessen ‚Schöpfungen‘ dadurch in sich zerfallen würden.
Beide Arbeitsansätze haben mit der Überwindung von Grenzen mit dem Ziel der Erhöhung des Lebenswertes des Menschen, ja im Großen gesehen, der Menschheit zu tun. Unbewußtes inneres Weltgeschehen verlangt in bewußtes Handeln aufgenommen zu werden, genauso wie naturwissenschaftliche Grenzüberschreitungen immer neue äussere Forschungsfelder in den intellektuellen Zugriff und - entsprechend ihrem erwarteten oder geforderten Nutzen - zur technischen Realisation bringen können.
Beide Arbeitsmethoden müssen zusammenfinden: Das Innere wäre im Äußeren zu entdecken, das Äußere im Inneren. Scherber nannte diese Forschungsintention 'Über-Kreuz-Erleben' - eine Lebensweise, durch die Wissen und Glaube, künstlerisches Schaffen und Naturgeschehen versöhnt würden. Eine neue Weltsicht und eine verwandelte Handlungspraxis im Sozialen und im technischen Umgang mit der Natur und ihren Kräften würde dadurch entstehen.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts gelang Scherber die Grenzüberschreitung zur sich lange schon keimhaft in den Werken seiner Vorgänger ankündigenden 'Musik des Lebens', er nannte sie Metamorphosenmusik. Er vollzog den Schritt von einer mehr kompositorisch-architektonisch, also kristallinisch geprägten zu einer organisch-lebendig sich entfaltenden Musik und sah sich hierbei als Anfänger.
In den Metamorphosensymphonien faßte Scherber die in seiner Zeit immer weniger zum Tragen kommenden universalen Qualitäten der Sinfonie neu.
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