Martin Scherber zur II. Symphonie
(teilweise auch Bemerkungen zur Musik allgemein)
Auszüge aus den Briefwechseln mit
Gabriele und Fred (Fritz, Friedrich) Thürmer (1951 bis 1957)
dem Dirigenten der Uraufführung vom 24. Januar 1957 mit dem Niedersächsischen Symphonieorchester Hannover und mit
Lilo Hammann-Rauno (1952-1963)
(alte Schreibweise)
1951
6.4.1951
„Ich arbeite an meiner 2. ‚Symphonie’. Mehr und mehr wird mir bewußt, daß ich da sozusagen dort weiterfahre, wo ich in der 1. aufhörte. Tonvorträge – vielleicht deutet das etwas davon an; Erlebtes wird vorgetragen. Eine Auseinandersetzung mit Parsival findet statt usw. aber musikalisch-logisch – ein Weg. – Man wird noch nicht viel wissen wollen davon. Man ist auch musikalisch noch so dumm, daß man bei Anklängen von Abschreiben spricht, ohne auf die musikalisch-logische Folgerichtigkeit einzugehen. Heute ist wenig Empfinden für wahre Gedankenlogik vorhanden. Wie soll da Empfindung für objektive musikalische Logik vorhanden sein u.a.“
„Schwer wird sein das Zusammenfassen der musikalischen Linien für die Musiker. Sie spielen heute fast alle nur Töne oder einzelne Stücke von Linien. Das ist auch eine praktische Atomistik, die sich da auslebt. Wer recht dabei erlebt, wird keine Spur von Atomismus darin [in der Symphonie] finden.“
13.9.1951:
„Ich schreibe ja an einer sogenannten 2. Symphonie. Immer und immer gehen die Gedanken und Empfindungen in diese Welten. Es ist ja ein Leben in Welthintergründen. Da dreht es sich darum, immer mehr das Bewußtsein zu steigern. Wenn man an diese Dinge herankommt, dann hat man etwas, man sucht dann nicht nach Ausdrucksmittel; sie stellen sich ganz entschieden dar. Man fragt auch nicht, ob ein Dreiklang das Rechte ist oder das ‚Atonale’. Atonal kann man nur sein, wenn man das Freiheitlich-Gedankliche in die Musik hineinträgt. Nicht aber das, sondern das Ergebnis dieses Freiheitlich-Gedanklichen – das geistige Ich – muß in die Musik (die Welthintergründe) hinein, dann nimmt man damit wahr. Man ringt im Atonalen um das Ich, kann es da aber ebensowenig finden wie im Gedanklichen. [...] Immer geht es darum, das Ich (das erst aus dem Physischen herausgelöst werden muß) zum Wahrnehmen in den entsprechenden Sphären zu bringen. Man will heute eben bleiben, wie man ist.“
Musik 13.9.1951:
„Ich suche nicht in dieser Welt. – Mehr oder weniger möchte ich Künder werden einer anderen Welt. [...] Das Wichtigste und Wesentlichste ist die Bewußtseinswandlung, [...] die aber von uns selbst vollzogen werden muß. Auf das gehen die meisten – vor allem die Wissenschaftler – so ungern ein.“
10.10.51 Karte:
„Die II ! ist schon etwa eine halbe Stunde lang. Es geht bei mir alles sehr, sehr langsam. Es braucht eben alles seine Zeit. –
Musik 10.11.1951:
„Musik entgeht eben vollständig einem gedanklichen Erfassen. Will man Musik tiefer oder besser gesagt überhaupt erfassen, dann müssen eben die Fähigkeiten dafür erst entwickelt werden. Es ist das eine Fähigkeit, die sozusagen bewußt den Gegenstand außer dem Leib greifen und wahrnehmen kann. Eine ganze Symphonie z.B. muß wie eine Gestalt, die sich tätig darlebt, mit wachen Kräften ergriffen werden. Diese Fähigkeiten kommen neu herauf. Mühselig ist es, sie sich zu erwerben. Aber wer nicht nur Phrasen haben will, muß sie sich erwerben. Auch die Gedanken können dann erschaut werden. Alles gewinnt eben dann Hand und Fuß und Kopf! Klar wird auch erschaut, daß eine wahre fortschrittliche Idee oder Sache nur außerhalb des (Leibes) gewöhnlichen Bewußtseins erreicht werden kann. Die Zwölftonmusik ist deshalb etwas, das ein ernstes Erfassen als Kombination des gewöhnlichen Bewußtseins erkennt. Man kann zum eigenen Spaß natürlich theoretisieren, aber schaffend daraus werden, bringt uns nur Zerstörung.“
10.11.1951:
„In meiner II. lebe ich z. B. immer bewußt im ganzen Tongeschehen; sorgfältig wache ich, daß der geistige Faden nicht abreißt. D.h. daß es eine durchlaufend durchorganisierte Gestalt bleibt. Etwas den Weltwesen Abgelauschtes. Auf die Frage: Harmonie oder nicht, lasse ich mich gar nicht ein, weil ich ja Inhalte einfange, die wir heutigen Menschen eben noch nicht haben. Und um diese im Tonleib sich darleben zu lassen, brauche ich eben alles. Jedes Ausschließen von irgend etwas würde ja verarmen. Wer z.B. Harmonien ausschließt, kann ja bestimmte Dinge überhaupt nicht mehr aufleben lassen. Der Maler wäre in der gleichen Falle, wenn er z. B. die Gerade oder eine bestimmte Farbe nicht gebrauchen wollte. Der wahren Wirklichkeit gegenüber sind das Mätzchen! ---
Ein technischer Apparat läßt sich mit dem gewöhnlichen Bewußtsein herstellen. Ein Kunstwerk, das den anderen Menschen in eine höhere Wirklichkeit weisen soll, kann nur aus einem höheren Bereich durch höheres Bewußtsein geholt werden. Bewußtsein – nicht Trieb, wie Schönberg sagt. Trieb ist ja auch bei Hindemith, dessen Stil und Musik wohl am leichtesten nachgemacht werden kann. Der heutige Schaffende müßte auch genauestens erleben können, was die heutige Menschheit brauchte und was sie in sich schon trägt – usw."
„Wann wird nun die Symphonie aufgeführt? Es soll nämlich eine Symphonie sein; es ist ja versucht die Form der Symphonie weiterzuführen. In der 2. wird, was in der Ersten noch nicht ganz deutlich [ist], schon klarer zum Vorschein kommen. Die Form der Symphonie als Ganzes zu fassen und weiterzuführen ist ja eine schier übermenschliche Angelegenheit. Schreibt mir das doch rechtzeitig. Ich möchte schon gerne sie ein paarmal hören [zur Vorbereitung der Uraufführung der I. Symphonie]. Es gibt da sicher auch manches zu besprechen. Fritz wird da sicher nicht abgeneigt sein. Über Tempi wird vielleicht auch nicht alles klar auf der Hand liegen. Wenn Fritz mir schreibt, wann die Aufführung, die letzte und eventuell die vorletzte sein wird, werde ich versuchen zu disponieren.“
1952
13.2.1952:
„Denkt! Gestern ist die ‚Zweite’ fertig geworden, in Skizze natürlich. Ein wunderliches Werk ist es geworden! Genau eine Stunde spielt sie. Nun freue ich mich besonders die ‚Erste’ zu hören. Ich kann da an den Fehlern sicher viel lernen. Hat Fritz schon erzählt? Wie klingt es? Fritz hat sich ja überhaupt noch nicht geäußert. Hoffentlich geht nicht alles auf mich los.“
24.2.1952 II. Symphonie
"Ich arbeite hier schon wieder fleißig. Nächstens geht es an die Instrumentierung."
1.5.1952 zur Zweiten
„Wißt Ihr, weißt Du, daß ich sehr wenig Zeit habe, und daß mich die Instrumentation der Symphonie vollständig auffrißt? Was, das wird nicht geglaubt? So appetitlich bin ich gar nicht, wird gefunden? Ich finde das allerdings auch. Manches ist eben seltsam?“
30.6.1952 Zweite
„Ich bin ja immer ohne Zeit, ganz wie Fritz! Dabei soll ich doch fleißig instrumentieren! Wie weit meint ihr bin ich schon? 184 Seiten sind es schon. Noch 100 gibt es etwa. Das ist so eine Arbeit!"
„Die Zweite wird wahrscheinlich, wenn alles so weitergeht, heuer noch fertig. Will sie Fritz machen? Sie ist besser instrumentiert als die Erste.“
18.8.1952
„Die Zweite ist ja auch noch nicht fertig. Ich bin dabei, sie ins Reine zu schreiben. So ein großes Orchester macht furchtbar viel Arbeit. Jeder Musiker will ja genauestens seine Stimme notiert, womöglich noch eine sehr schöne, melodische. -- ... Immer wieder bringe ich mir zum Bewußtsein, daß sie nicht sonderlich Anklang finden wird heute. Auch ein Musiker sagte zu meiner Musik: ‚Ich glaube gar, sie wollen moralisch wirken.’ Das ist wohl ein Verbrechen heute, da doch alle genauestens wissen, was das Richtige für sie sei!“
„Die Musik von ganz jungen schätzt man doch immer noch mehr wie von älteren Komponisten. Das zeigt eben, wie kindlich (kindisch) wir noch sind. Mehr und mehr ist mir klar geworden, daß nur Menschen über der Lebensmitte nun Bedeutung haben können – vor allem für die Zukunft. Das ist ein Gesetz, aber ein schwer zu verstehendes. -
„Bei der Musik ist es eben nicht möglich, aus Gedanken etwas zu holen, weil sie tiefer geht wie der Gedanke. Die Musik kann aber als einzige Kunst direkt die geistige Welt zum Sprechen bringen. “
20.10.1952
„Eigentlich kann heute nur einer Musik machen, die heilsam ist, wenn er versucht, die geistige Welt direkt zu betreten. Und dann – dann muß es die geistige Welt auch wollen. Man meint eben zu leicht: wenn man ein paar Begriffe aufschnappt, könne man schon Weltbeglücker sein.“
„Denkt Ihr, eine Symphonie ließe sich leicht in einem Jahr fertigstellen? – Zwei Jahre arbeitete ich dran.“
1953
17.2.1953
„ An manchen Stellen sitze ich z.B. wochenlang fest, versuche mich immer tiefer einzuleben. Nur ganz langsam erschließen sich heute der Menschheit Lebenskräfte.“
„Vertrauen erzeugt Ruhe und dadurch können bis in den kleinsten Handgriff hinein, bis in das Zeitliche hinein höhere Wesen inspirierend tätig sein.“
„40 Streicher? Wie sind sie aufgeteilt? Wieviel Bässe, VC? Sieh Dir die Zweite genau an. Mindestens ein fünfsaitiger (Baß) müßte dabei sein. Meist ist ja Kontrafagott dabei. Da ginge das. Der Streichkörper ist aber, vor allem, wenn die Bläser nicht zu überzeugen sind, daß es nicht um Gewalt geht, sondern um das Wesenhafte, das sich in der Klangfarbe zum Ausdruck bringt, immer noch zu schwach“
„Wann ich die Partitur der Zweiten schicke, fragt Fritz. Die wollte ich mit dem Buch zusammen schicken. Oder will er sie schon eher?
Gründonnerstag 1953 zur Zweiten
„Die Partitur habe ich noch immer nicht abgeschickt, das macht mir auch Sorge. Fritz soll sie doch wenigstens sehen. Ob er sie aufführen kann, - will – ist ja dann seine Sache. Bald wird sie ankommen.“
8.10.1953
„Für die Bemühungen um die Zweite danke ich herzlichst. Es sind ja ganz und gar neue Elemente darinnen. Die sind allerdings schon manche Bemühungen wert. Aber viele Freunde wird sie zunächst, glaube ich, nicht finden. Obwohl alle, die sie bis jetzt hörten, sehr berührt davon waren. Also nächstes Jahr! Da werde ich dann wieder kommen.“
15.12. 1953
„Ich bin auch bereit, alles in meiner Schublade bis zu meinem Tode liegen zu lassen.“
1954
7.1.1954
„Ich spielte mit einem Schüler die II. dreimal (für zwei Klaviere gesetzt). Die Klaviere können natürlich niemals das Orchester ersetzen. An einer Stelle spielten noch andere Schüler mit: siebenhändig spielten wir also da. – Und immer noch war’s kein Orchester. - Im allgemeinen muß ich aber doch sagen: sie hinterließ bei allen Eindruck. Bei einigen sogar sehr, sehr tiefen. Einige hörte sie sich dreimal, andere zweimal an; sie meinten, der Eindruck verstärke sich bei öfterem Hören. Das wäre ein gutes Zeichen, meinte ich. Eine Sängerin sagte, daß diese Musik auf sie einen so gewaltigen Eindruck mache, so ganz und gar nicht von ‚dieser Welt’ wäre, daß sie mir alle meine sonstigen Äußerungen und Handlungen verzeihen könne. Nun seht, was muß ich da wohl für ein Sünder und schlechter Kerl sein. -- Ein anderer, der vorher den Anfang des Johannesevangeliums immer las, sagte, das wäre sein stärkster Kunsteindruck gewesen. Er hätte noch nie so stark die Einheit eines Kunstwerkes erlebt. - Das freut mich schon etwas, das Letztere, denn dadurch, durch das Einheitliche (nicht Gleichförmige), wird ja auf das Ich gewirkt, das Ich gestärkt. Das muß ja nun in der Musik, in der Kunst kommen: das Ich muß unmittelbar angesprochen werden, nicht nur die Seele, wie bisher. Die moderne Musik spricht ja hauptsächlich den denkerischen Teil des Seelischen an, den sogenannten Geist der Seele. Das ist aber nicht das Ich.“
Ostern 1954
"Am Gründonnerstag spielte ich nochmals meine II. auf 2 Klavieren auf Wunsch. Wir spielten sie da bis jetzt am besten. Alles war sehr beeindruckt."
4.10.1954
„Ich darf aber doch bescheiden sagen, daß mir meine Sachen tief erlebbar sind, ich weiß auch, wie sie auf den Menschen wirken, was sie aus ihm machen. Mich macht niemand mehr irre“
1955
27.6.1955
„Augenblicklich lese ich die Poetik von Strawinsky. Das ist ein Kopf! So wirr und unklar fand bisher ich keinen! --- Ein Musterbeispiel: ‚Ich behaupte keineswegs, daß die Inspiration eine Voraussetzung für den schöpferischen Akt ist.. sondern eine Äußerung von sekundärer Art’. ‚Im eigentlichen Sinn bedeutet Kunst so viel, wie Werke nach bestimmten Methoden herstellen’. Kommentar nicht mehr nötig!“
1956
22.12.1956
„Dein lieber Brief – für den ich herzlichst danke – brachte mir einen gewissen Schreck! - Nun soll also auch die II. losgelassen werden! – Auf die heutige Menschheit! -- Die alles Mögliche will, nur nicht in sich gehen, etwas tief erleben! - Freuen tu ich mich da natürlich auch sehr! Vor allem über Dich! Du bekommst doch alles fertig! Sogar drei Fünfsaitige haben wir! Also war es doch gut, daß ich nicht zu Weihnachten kam.“
„Nun, wie wird es mit den Proben sein? Wann beginnen die? Das sind also die Hannoveraner, oder nicht? Wo probierst Du da? Wie viele Proben hast Du? All das interessiert mich doch sehr. Ja, die Stimmen können nicht gut genug korrigiert sein. Mit der Ersten war noch viel Arbeit hier. Ich korrigierte fest. Viele Fehler fanden wir da. Aber, was meinst Du da mit Strichbezeichnungen? Ich gab ja in der Partitur genau an, wie phrasiert werden muß, wie lange die einzelnen Phrasen sein müssen. Wir machen es, wie das auch Richard Strauß machte, wenn eine Melodie über zehn Takte gebunden sein soll, dann darf eben kein allgemeiner Bogenstrich eingetragen werden. Jeder Musiker muß da eben ‚atmen’, strichwechseln, wo er eben muß. Jeder atmet dann an einer anderen Stelle. und so kommt dann der große Atem zustande! Im Chorgesang ließ ich das auch so machen. Die Kritiker schrieben deshalb wohl auch: nie hätte man solche Theaterchöre gehört. Mein Chor konnte einen Ton unendlich lange aushalten. Wie gesagt, jeder muß eben für sich atmen, nicht mit allen zusammen während einer Phrase. Bei den Streichern kommt so natürlich bei großangelegten Gesangsstellen kein einheitlicher Bogenstrich zustande. Dilettanten bzw. Soldaten rügen das allerdings scharf! Wie gesagt, das ist aber nur bei langatmigen Gesangsstellen. Musiker wissen das aber an ganz großen Orchestern (unter großen Dirigenten) zu schätzen! In meiner Ersten sind ja auch ganz lange Perioden gebunden. Auch da hatten die Musiker einheitlichen Strich eingetragen und genommen. Ich wollte das ganz und gar nicht. Du mußt das nur einmal machen lassen und sagen: Da wirst Du sehen, wie das Orchester strahlt und groß und ruhig singen kann. Einheitlicher Strich macht für mich das Orchester bei großatmiger Musik immer etwas asthmatisch!, Also, Lieber, das müssen wir unbedingt gerade bei dieser II., die so großatmig an vielen Stellen ist, herausbekommen. Das trägt ja besonders unsere Seele!
Beethoven und Mozart dazu finde ich großartig und gerade diese zwei Sachen!! Das hast Du fein gemacht! Der liebe Gott wird Dir’s danken!. Der kann das ja viel besser als ich, sein Knecht!
Ja, nun was sollen wir bzw. ich dazu schreiben oder Dir sagen? Das fällt mir wirklich schwer! All das, was darinnen eine Rolle spielt, liegt ja dem heutigen Menschen so weit ab. Gerade das Formale! Der heutige Mensch kann doch die Form nur als Abstraktum erleben. Eigentlich – seien wir ganz ehrlich – ist es doch dem heutigen Menschen ganz Wurst, ob eine Reprise kommt oder nicht, oder eine Durchführung. Er läßt sich eben von diesem oder jenem ‚ansprechen’. Aber ein klares Erleben hat er durchaus nicht! Die Form wächst ja in der II. D.h. sie ergibt sich lebend – also nicht von vorneherein. Sie stand auch nicht vom Anfang an fest – so wie fast bei allen Komponisten bisher. Dieses Thema – das ist ja wohl leicht zu bemerken – erbildet sich anfangs erst, d.h. es wächst erst selber heran wie ein Keim. Und aus diesem Keim ersteht dann die ganze Symphonie. Ich bewege mich mit diesem Thema sozusagen durch allerlei Welten, an einer Stelle durch alle Tonarten. Dabei werden die Glieder oder Motive des Thema immer individueller, sie wachsen immer mehr zu selbständigen Organen heran. Am Schluß fügt sich alles Selbständige, Individualisierte zu einem Einheitlichen zusammen. Etwa der Gang der Menschheitsentwicklung ist darin Form geworden. Das Thema selbst ist wohl etwas bizarr. – So, daß man beinahe etwas bange ist, wie das wohl gehen mag! Und siehe da – die Abspaltungen, oder Motive, finden gewissermaßen Klarheiten und Beruhigendes. Es geht durch Dramatisches, durch Todesschauer und Todesregionen – aber, der Tod stellt sich heraus als Helfer – als der ernsteste, treueste Freund auf der ganzen Wanderung; s e i n e Gaben, die größten Segnungen, ermöglichen dem Menschen, mit allem eins zu werden – den Allgott zu finden: am Schluß sind alle Motive, alle Glieder harmonisch tätig, um das Ganze neu erstehen zu lassen. Eine Reprise kann ich nicht gebrauchen, weil in Wahrheit es das überhaupt nicht gibt in der Weltentwicklung. Wenn das so scheint, nun – so ist das eben Schein. Beethoven und Bruckner rangen ja immer danach, die Reprise zu überwinden irgendwie. - Im menschlichen Leben ist das Altern in gewissem Maße ein kindlich werden. ‚So ihr nicht werdet, wie die Kinder...’ Aber das ist etwas ganz anderes, als eine wirkliche musikalische Reprise. Das machten sich die Musiker alles viel zu einfach! --- Die Kräfte, die in der Kindheit leiblich wirken, findet der alte Mensch eben wieder – aber innerlich, geistig – wesenhaft selbständig! – Also kann man auch sagen: die Symphonie gibt wieder das, was der Mensch als Vollmensch im Laufe des Lebens erleben kann! Und darum, weil dieser Gang etwas ist, das jeden interessiert bzw. jedem innerlich eingeschrieben ist, spricht wohl diese II., diese Musik die meisten Menschen so an. Goethe sagt einmal: ‚Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten’.“
22.12.1956
PS: „Experimentiert wird in der II. nichts. Das kann man auch sagen. Sie ist gelebt und will auch belebt werden!“
Text zur Uraufführung der II. Symphonie am 24. Januar 1957 in Lüneburg von Fred Thürmer
"Martin Scherber (geb. 1907) zeichnet sich in seinem Streben dadurch aus, daß er sich in den Dienst einer musikalischen ENTWICKLUNG stellt. So bricht er nicht mit der musikalischen Tradition, sondern setzt da an, wo die fortlaufende symphonische Entwicklung zunächst ein großes Ende fand, bei Anton Bruckner. Er verzichtet bewußt auf moderne Wirkungen und Effekte und bringt, was er zu sagen hat, nur für ein wachsames, feines Hören. Eine besondere Ruhe und Geschlossenheit des Werkes äußert sich darin, daß die ganze einstündige Sinfonie aus einem Thema entwickelt und in einem Satz geschrieben ist.“
Programm der Uraufführung der Zweiten am 24.1.1957 Lüneburg:
Mozart: Ouvertüre zur Oper ‚Die Zauberflöte’
Beethoven: Violinkonzert (Solist: Siegfried Borris)
Scherber: Uraufführung II. Symphonie
Aus einem Rundbrief Fred Thürmers zur Uraufführung der II. in Lüneburg
vom 10. Januar 1957 an Interessenten der Aufführung
„Mit Martin Scherber (geb. 1907) haben wir einen Menschen vor uns, der die beneidenswerte Fähigkeit besitzt, seine große musikalische Begabung ganz in den Dienst eines moralischen Gewissens zu stellen. Scherber schreibt unerbittlich nur nach seinem Gewissen und möchte aus den Quellen der Kunst dem Menschen etwas Positives, Welt- und Lebensbejahendes geben. Wer von dieser Musik etwa interessante, noch nie dagewesene Klänge und Rhythmen erwartet, wird enttäuscht sein. Sie ist gelebt und will gelebt werden. Was Scherber zu sagen hat, drückt er auf völlig tonaler Grundlage aus. Daß diese Musik trotzdem ‚neu’ und nicht etwa epigonenhaft brucknerisch ist, wird einem wachen, feineren Hören schon aufgehen und verständlich werden.
Die II. Symphonie zeichnet sich dadurch aus, daß sie eine klare Entwicklung verwirklicht. So bricht der Komponist auch nicht mit der musikalischen Tradition, sondern setzt da an, wo die fortlaufende sinfonische Entwicklung ein großes Ende fand, bei Anton Bruckner. Wenn einige Stellen dieser Sinfonie an Bekanntes erinnern, sollt man doch mehr auf das ‚Wie’ eingehen, verfolgen, w i e es im Ganzen heranwächst! Und gerade das W a c h s e n ist für den Aufbau dieser Musik so charakteristisch. Sogar das Thema steht nicht von Anfang an bereits fest, sondern erbildet sich erst, d.h. es wächst heran wie ein Keim. Und aus diesem Keim ersteht dann die ganze Sinfonie[...] von einstündiger Dauer, der an den Hörer schon einige Anforderungen stellt, will er den Gang der Entwicklung darin verfolgen. Diese Einsätzigkeit gibt dem Werk auch eine besondere Ruhe und Geschlossenheit. Die einzelnen Glieder oder Motive des Themas spalten sich scheinbar gänzlich vom Kopf ab, werden im Verlaufe der Entwicklung immer individueller. Sie wachsen immer mehr zu selbständigen Organen heran und führen auf langen Strecken ein Eigenleben. Am Schluß, in einer fünfzig Partiturseiten umfassenden Coda, fügt sich alles wie von selbst zu einem Einheitlichen zusammen.“
Äußerungen Martin Scherbers über die II. Symphonie in f-moll
Aus dem Briefwechsel mit Lilo Hammann-Rauno(Oktober 1952 – März 1963)
21.10.1952
"Die Zweite – dank – ist ganz fertig! - 276 Seiten sind’s geworden. Schön ist sie gebunden: ganz in schwarzem Leinen, mit zwei goldenen Säulen I I."
24.11.1952
"Dem Präsidenten der Münchener Hochschule, Robert Heger (der mich kennt), schrieb ich. Gar keine Zeit hat er für neue Werke, schrieb er mir. Ich möchte das, bitte, verstehen. Er muss das jüngeren Dirigenten überlassen. Er fühlt seine Jahre gezählt, das kann ich auch verstehen. Es wird auch 99% zu viel geschrieben. Dadurch kommen solche Dinge. Hunderte von Werken müsste so ein Mann natürlich monatlich durchsehen, wenn er allem entsprechen wollte. Ja, ich brauchte Dirigenten, die etwas von einer kommenden Geistigkeit ahnen!"
22.1.1953
„Ich schrieb Thürmer schon, dass die 2. ein größeres Orchester verlangte. Sie wird ja die Musiker sehr ansprechen. Sodass sie wahrscheinlich unter ihr reifen, d.h. mehr geben als man ihnen zutraut. Zu klein aber ist vor allen Dingen das Orchester. Sprich davon, bitte, nicht zu Thürmer, höchstens, was Du selber denkst. Manche hörten sie nun schon (vor allem stellenweise) mehrmals; ich bemerkte, wie sie immer stärker beeindruckt werden. Das spricht ja für das Werk."
17.3.1953
"Soll ich dem Thürmer also die Zweite schicken? Ja, etwas merkwürdig finde ich das schon. Eigentlich müsste sie vor bestimmten Menschen aufgeführt werden. Die meisten können ja da gar nicht ahnen, was da gewollt ist, was sich da tut. Die 4. von Bruckner klang also sehr schön. Nun, wollen wir’s wagen!? Ich werde sie ihm schicken. Und er soll entscheiden. Wenn er es wagt, wenn er für das Werk einritt, ist des ja seine Sache. Er soll sie sich genau ansehen. Je genauer er hinsieht, desto lieber wird er sie auch machen. Das weiß ich genau."
25.6.1953
"Was tut sich sonst? Hast Du Thürmer wieder einmal getroffen? Ich glaube nicht, dass er meine Zweite machen wird oder machen kann. Es ist alles noch so fern heute. ...Ja, was soll meine Musik dem heutigen Menschen? Was soll er damit? Sie will ihn ändern, wachsen (machen) lassen. – Die Zweite setze ich augenblicklich für zwei Klaviere, damit sie wenigstens einigermaßen zu spielen ist. Vielleicht kannst Du sie einmal hören.“
1.8.1953
„Denk, heute habe ich die Zweite für zwei Klaviere fertigbekommen. 158 Seiten wurden das. Wieder eine Arbeit hinter mir.“
4. Advent 1953
„Um ¾ 5 Uhr am Heiligen Abend spiele ich meine II. Dann am 26. um ½ 8 Uhr und am 1. um ½ 8 Vielleicht noch einmal.“
30.12.1953
„Die Menschen waren alle sehr angesprochen. Das zweite Mal waren ja mehr Menschen da, etwa 22 schätze ich. Teilweise lobten sie ungeheuerlich. Eine sagte mir, dass diese Musik bewirke, dass sie mir alles verzeihen kann, was ich sonst sage und tue. – Da hast Du’s.. Die Musik wird also viel besser empfunden als ich armer Sünder bin! – Einer sagte, dass dies sein stärkster Kunsteindruck gewesen wäre. - Andere aber waren wohl weniger erbaut, oder was meinst Du? An den Gesichtern konnte man allerdings lesen, dass sie etwas erlebt hatten, was sie sehr, sehr beschäftigt und beschäftigen wird. Manche hörten sie zweimal. Der Eindruck wäre beim zweiten Mal stärker, meinten sie. Das ist wohl ein gutes Zeichen, meinte ich dazu. –
Am 1.1. kommen wieder viele.“
5.1.1954
„Dreimal also ist die II. gespielt. Ich soll sie noch öfter spielen, meint man. Mal sehen, sie hat allgemein großen Eindruck gemacht. ...Zu Anfang der II. wurde immer das Anfangskapitel aus dem Johannesevangelium gelesen. ...“
28.1.1954
„Noch einen Traum hatte ich vor einiger Zeit, ich vergaß ihn zu berichten. Von mir wurde in der Welt etwas bekannt. Und was denkst Du? – Da kamen eines Tages Kerle mit Stangen und Spießen in mein Zimmer und wollten – sollten ... – das vergelten. –“
18.3.1954
„Wann wir wohl die seltsame II. hören werden? Noch gar die Dritte?“
13.4.1954
„Übrigens spiele ich auf Wunsch zum Gründonnerstag um 8 Uhr meine II. mit Herrn Held noch einmal.“
11.5.1954
„Die II. am Gründonnerstag soll angeblich am besten gewesen sein. Der Klang beider Instrumente wurde so bewundert, das Zusammenspiel und alles. Nun ja, da sage ich immer zu den Einzelnen: sie wachsen eben und lernen das Werk immer besser kennen. Das will man meistens nicht wahr haben. Alles – alle Schuld – soll immer auf der anderen Seite liegen. – “
24.7.1954 Besuch in Bayreuth – Parsifal.
„Meine Zweite haben wir abgeben können. [...] Hoffnung habe ich keine. Die Dirigenten müssten erst vorbereitet werden.“
22.8.1956
„Die Zweite wäre meiner Meinung nach mehr für den Osten oder Norden. Schade, dass man da nichts erleben kann.“
Silvesterabend 1956
„... am 24. Januar werde ich bei der Aufführung meiner Zweiten in Lüneburg sein. Thürmer führt sie auf mit den Hannoveranern.“
8.1.1957
Ich werde also wahrscheinlich am Samstag, den 19.1. um 9.40, abfahren und bin dann um 17.36 in Lüneburg. Drei Wochen soll ich bleiben. Denn Fritz – denke! – er will mit mir arbeiten! – Das wird mir aber zu viel werden; so lange kann ich nicht wegen meiner Schüler bleiben.
11.1.1957
Reise nach Lüneburg
Lüneburg 22.1.1957
„Bis jetzt habe ich fast nur Stimmen (II. Symphonie zur Uraufführung) korrigiert, und nur gestern Abend einen kleinen Spaziergang alleine gemacht....“
25.2.1957
"Ja, diese II. ist mir auch ein Stern, der mir Ruhe und Klarheit und Friedsamkeit und Erbauung strahlt. – [...] So eine Symphonie entsteht auch nur mit großer Geduld. Da ist ja auch nichts von heute auf morgen zu machen. Manche Tage habe ich gar nichts schreiben können, an manchen nur eine Seite oder ein paar Noten. Steter Tropfen höhlt den Stein, heißt es! – Auch: wer die größte Geduld hat, wird besseren Frieden haben. –“
30.7.1957
„Was macht nun die II? Hast Du da einmal Dich darum getan? Die soll auch nicht tot herumliegen.. Fordere sie dann eben zurück. Nur nicht bitten und betteln. Der sie macht, der soll das aus sich frei und aus eigener Verantwortung tun. – “
Weihnachten 1957
„In bezug auf meine II. hast Du sicher recht. Die wird eines Tages den Menschen viel geben können. Sie wird noch viel gespielt werden. Da sind wir aber wahrscheinlich nicht im Leibe.“
27.11.1957
„Meine Symphonie kommt also wieder so zurück. Das finde ich ganz verständlich. Das wundert mich kein bisschen. Wundern täte mich ein Finden der Geheimnisse, die da verborgen sind. Wir Menschen aber wollen schon gar nicht mehr suchen heute. Es sind ja nicht die leisesten Vorbedingungen da, um so etwas zu verstehen. Man sieht es doch an Walter. Ich erlebe da ja viele Dinge auch an H. Scheurich. Gewisse Dinge sind einfach für ihn nicht da – überhaupt nicht für Gebildete. Der heutige Gebildete ist ja bestenfalls nur ein halber Mensch. Er weiß auch gar nicht wie verbrecherisch er ist.“
16.3.1958
„Die II. ist wohlbehalten angekommen. Das schrieb ich doch noch gar nicht, oder? Ja, kurz ging mir etwas von der Dritten im Kopf herum. Da dachte ich dann auch an den „Armen“ - Bruno Walter. Dass doch irgendwo jeder ein armer Pinsel ist!!! – Wenn der wüsste! Wie klein hat er doch geschrieben, wie von oben herab, wie eingebildet! Ja, diese heutigen Künstler, Dirigenten sind eben Nachkommen der eigentlichen Priester und Könige! Heute aber wollen sie nur noch Macht ausüben und herrschen! Und --- sich feiern, verehren – und vergöttlichen lassen!“
6.9.1961
„Bei der Zweiten habe ich manchmal das Gefühl, sie ist ein Pflanzengebilde.“
9.5.1963
„Meine erste ist in d-Moll. Da dachte ich – es gibt überhaupt keine tiefere, schönere, ernstere, innigere, düsterere, feierlichere Tonart! -
Das dacht ich, dann erlebte ich bei der Zweiten: keine wundersamere Tonart, wie f-moll !!! – !“