Warum heute wieder Märchen?
'In jeder Wissenschaft ist nur so viel wahre Wissenschaft, als Mathematik darinnen ist“
(Kant) – tönt für wache Ohren heute mächtiger denn je von allen Lehrkanzeln.
Exakt ist damit ausgesprochen: Wir haben nur dort wahre Wissenschaft, wo Mathematik nicht versagt; wo Mathematik aber versagt, haben wir kein wahres Wissen, sondern Schein-Wissen – Grenzen des Erkennens.
Wer mit Aufmerksamkeit gegenwärtige Literatur, Wissenschaft, Kunst oder Religion durchgeht, wird überall versteckt finden dieses Schein-Wissen (Erkenntnisgrenzen) als Theorien, Hypothesen, Spekulationen, (Aber-)Glaube, geheime Sympathien oder Antipathien. Darf aber sich Wissenschaft nennen, was wegen der eingestandenen Erkenntnisgrenzen gar nicht wahre Wissenschaft sein kann?
Der Glaube an Gott oder Geister, welche die Welt erschaffen haben sollen, ist in Wissenschaft mit Recht ausgemerzt: Wissen überhöht, überwindet allen Glauben.
Was droht nun aber jenen Bereichen, die dem wahren Wissen – der Anwendung von Mathematik - verschlossen sind? Hier hat das Schein-Wissen ‘verstohlen‘ einen Neuen Glauben eingeschleust: den Glauben an nichtdenkende, vernunftlose Atome, welche die Welt und dazu die Vernunft erschaffen haben sollen.
Welcher Glaube dem 20. Jahrhundert angemessener ist? – Durch Mathematik erreichen wir wahre Wissenschaft – nur eben nicht auf allen Gebieten. Müssen wir darum auf diesen rückfällig werden, wieder dem Glauben huldigen?
Was sollen in dieser Situation wieder Märchen? Sollen sie einen anderen Glauben bringen – einen Glauben für Kinder?
Eine in fruchtbare Zukunft führende Entwicklung wird dem modernen Menschen durch folgende erweckende Überlegung:
Mathematik ist ganz unbestreitbar ein inneres Können, ein inneres ‘Handeln‘, nicht nur Wissen; und zwar ein Können, das nicht angeboren ist, sondern jeder sich selbst aneignen muß; ein Können, das darin besteht, innerlich diszipliniert tätig zu sein und zwar so frei von aller Willkür, daß exakt die mathematisch-geometrischen Gebilde mit ihren Gesetzmäßigkeiten anschaulich werden können.
Dieser Tatbestand entspricht genau dem mehr oder weniger bewußten Streben jedes heutigen Menschen: frei zu werden von jeglicher Autorität und versöhnend mitsprechen zu können nach eigenen Einsichten. Dieser Idealzustand ist
v o r e r s t nur verwirklicht auf dem Gebiete des Mathematisierens.
Die brennendste Frage müßte nun sein: Kann dieses in Freiheit erübte Tun, diese mathematische Methode, so erweitert und umgewandelt werden, daß auf allen Gebieten wahre Wissenschaft möglich ist, und die Grenzen des Erkennens verschwinden?
Ja! – Das kann erreicht werden! Dazu muß das innere Tun, das innere Können, das im Mathematisieren elementar erübt und zunächst nur formaler Natur ist, disziplinierend das Fühlen ergreifen und brauchbar machen für exakte i n n e r e Welterfahrung. Dabei sind wir tätig in einer Welt - unabhängig von aller Außenwelt und allen Leibesorganen, die wir gewöhnlich Gefühlswelt nennen, aber noch nie
e x a k t erlebend als Tätig-Freie, als Könner, betreten haben. Dadurch wird die Außenwelt bereichert um unendlich umfassendere Welten, die man zum Unterschied von der schon bekannten Innenwelt, Kräfte- oder schöpferische Welten nennen darf.
Kunst, die ihren Mutterboden im Fühlen hat, wird so Botschaft aus exakt erlebten, tätig-frei betretenen Welten, welche die bekannte Außenwelt um Unendliches bereichern, und diese Außenwelt in ihrem Hervorgehen aus jenen erst erkennbar und verständlich machen.
Das Märchen, wenn es wahrhaft in jenen Welten erlebt ist, entstammt dann nicht der Träumerei oder Phantastik, sondern der e x a k t e n Phantasie, dem exakten inneren Bildekräfte-Erleben. Es will deshalb nicht intellektuell ‚erklärt’ werden, sondern erlebend uns in all seinen Bildekräfte-Reichtum eindringen lassen; es will – so wie alle wahre Kunst – uns helfen, die Menschenentwicklung da fortzusetzen, wo sie heute angekommen ist; es will uns helfen Blüte und Frucht hervorzubringen.
Martin Scherber /22. Mai 1972