Martin Scherber (1907-1974)
E i n M ä r c h e n ?
Ein großer Plastiker, ein Künstler ohnegleichen: ER nahm vor Zeiten und Raum Ton und formte daraus wundersame Dinge. Siehe, unermeßlich war seine Phantasie.
Als ER ein unübersehbares Formenmeer geschaffen hatte, vermißte ER in seinen Geschöpfen Leben. ER unternahm, sie lebendig zu machen. Und siehe, es gelang wundersam. Alle seine Geschöpfe fingen an zu leben.
Höre, ER liebte seine Geschöpfe dermaßen, daß es ihn bedrückte, da seine Gestalten nicht Seele hatten. ER begann ihnen Empfindung einzuhauchen. Dies gelang ebenfalls wundersam. Etliche Gestalten fingen an zu empfinden und ihre Gefühle tönend zu offenbaren.
Eines Tages ward ihm unerträglich, daß seine Schöpfung nicht war wie ER selbst, nicht Geist hatte wie ER. Hörst du noch? Da hub ER an, seinen Gestalten Geist von seinem Geiste einzuhauchen. Jetzt erst kam ihm vor, als hätte ER sich selbst gemeistert in vielen, vielen Geschöpfen. Da kam ihm die große Hoffnung, wenn die sich erfüllte, würde ER eines Tages nicht mehr allein sein, sondern umgeben von Seinesgleichen.
Einige Geschöpfe erfaßten mutig, daß sie werden konnten wie ihr Schöpfer und wurden daraufhin Seinesgleichen. Andere hielten sich an jene Gestalten, die nicht lebendig waren, andere an die lebendigen, wieder andere an jene, die Empfindung hatten. Dadurch entfiel ihnen, daß sie mehr sein sollten, daß sie werden konnten wie ihr Schöpfer selbst. Sie verfielen deshalb, ihr Geist verfinsterte, und sie fingen an zu kranken, verloren Hoffnung, verloren Zuversicht.
Jene aber, welche erkannten, daß DER, welcher sie erschuf, alles ihnen eingegeben hatte, was ER selbst war, wurden wie ihr Schöpfer, wurden Seinesgleichen, waren guter Hoffnung und begannen selbst Geschöpfe hervorzubringen.
Martin Scherber/Weihnacht 1962
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